Leseprobe
Margarete Lamsbach, Benjamin Rührmichnichtan
Tilla
Nachdem Tomek und Hiroshi gegangen waren, blieb Benjamin noch eine Weile alleine im Baumhaus und wartete. Dabei beobachtete er den Ast. Vielleicht war der Ast ein Gesandter der alten Linde. Die Linde hatte ja schon einmal mit ihm gesprochen und er fände es toll, wenn sie das wieder täte.
Eine Weile hatte er ruhig auf seinem Futon gelegen, den Blick unverwandt auf den Ast und sein Blattwerk gerichtet. Da hörte er ein leises Wispern und unter den Blättern entstand Unruhe.
„Ligneo, wann geht’s endlich weiter?“
„Hier ist es total langweilig.“
„Aua, Phylla hat sich auf mich drauf gesetzt.“
„Ligneo hat gesagt, wenn ich müde bin, darf ich mich ausruhen.“ Das trotzige Stimmchen schien Phylla zu sein.
„Stell dich nicht so an. Das Fliegengewicht merkt man doch kaum…“
„Solange ihr euch nicht vertragt, passiert hier gar nichts.“ Diese Stimme war dunkler und energischer als die Anderen.
Benjamin hielt den Atem an. Wer waren Ligneo und Phylla und wo kamen diese Stimmen her?
„Also los, machen wir weiter. Wir müssen dichter an ihn ran.“
„Bei drei geht’s los. Niemand schert aus – auch du nicht Phylla. Du bist jetzt groß genug, um in die richtige Richtung zu gehen.“
„Wo ist denn die richtige Richtung?“ Das zarte Stimmchen klang unsicher und Benjamin war gerührt.
„Lauf dahin, wo alle hinlaufen.“
„Au ja, das macht Spaß.“
„Also dann! Blick voran und immer daran denken, es wird nicht geschubst und nicht gekratzt. Eins- zwei- drei!“
Wie auf Kommando schob sich der Ast mitsamt den Blättern langsam, aber für Benjamin deutlich sichtbar auf ihn zu. Es gab nur eine kleine Unterbrechung, als Phylla jammerte: „Nicht so schnell, Ligneo, ich komm nicht mit.“
Jetzt war sich Benjamin sicher, dass Ligneo niemand anderer als der Ast war.
„Dreimal tief durchatmen. Du schaffst das!“
Nach einer Weile hörte er auch Phyllas fröhliches Stimmchen wieder: „Ich kann jetzt wieder. “
„Dann weiter. Gleich haben wir es geschafft.“
Mit tiefer Ehrfurcht sah Benjamin, wie der belaubte Ast das letzte Stück zu ihm zurücklegte und dann über seinem Kopf als grüner Baldachin stehenblieb.
Als er nach oben blickte, sah er viele grüne Augen, die ihn ansahen. Eines der kleineren Augen trällerte: “Huhu, hier bin ich. Wer bist du?“
Benjamin erkannte Phyllas Stimme. „Hallo Phylla, ich bin Benjamin. Schön, dass du mich besuchst.“
Ein leises Kichern antwortete ihm.
„Wir haben Tillas Auftrag erfüllt. Sie will nun mit dem Baumfreund sprechen. Ihr wisst, was das bedeutet. Es ist Schlafenszeit. Augen zu!“
Wie auf Kommando schlossen sich alle Augen des Baldachins…, nein, nicht alle. Ein kleines grünes Auge strahlte ihn immer noch an.
„Phylla!“
Ligneos strenger Tonfall hatte Erfolg. Das kleine Augenlid senkte sich ohne weitere Diskussion und es wurde still.
Benjamin lauschte dem Wind, der sachte um das Baumhaus kreiste und wartete darauf, dass die alte Linde zu ihm sprach.
Nach einer Weile hörte er über sich diese warme sanfte Stimme, die er schon einmal gehört hatte. „Guten Abend, Benjamin.“
„Ehrenwerte Linde, ich freue mich, dass du mich besuchst. Ich wusste gar nicht, dass man sich mit einem Baum unterhalten kann.“
Ein weiches Lachen umgab Benjamin. „Nenn mich Tilla, Benjamin. Das ist mein Name seit Anbeginn und wird es immer sein.“
Tilla erzählte Benjamin, dass sie ihm von nun an häufiger einen Besuch abstatten wollte. Sie fragte ihn, ob sie ihm irgendwie helfen könnte.
Er seufzte. „Ach, Tilla. Ich weiß gar nicht, ob mir irgendjemand helfen kann.“
„Versuch’s mal!“, forderte sie ihn auf.
Benjamin war, als ob er Tilla schon sehr lange kannte und klagte ihr vertrauensvoll sein Leid.
Tilla lauschte aufmerksam. Dann sagte sie: „Du hast also deinen Mut verloren und sehnst dich danach ihn wiederzufinden.“
So hatte Benjamin das noch nie gesehen. Jetzt erkannte er, dass er es leid war, immer als hilflos und ängstlich da zu stehen. „Ja, Tilla, kannst du mir helfen?“
„Hab Vertrauen in die Zukunft, Benjamin. Eines Tages wirst du den tapferen Krieger in dir wiederfinden.“
Just in diesem Moment klopfte jemand kräftig an die Baumhaustür. Der Ast mit seinen schlafenden Blättern zog sich in Windeseile zum Fenster zurück.
„Benny darf ich reinkommen?“
Benjamin öffnete seinem Bruder die Tür und ließ ihn eintreten.
„Was ist los?“, fragte Jakob.
„Nichts“, log Benjamin. „Ich hab nur nachgedacht.“
„Und worüber hast du nachgedacht?“
„Jakob, meinst du, ich könnte ein Krieger werden?“
Jakob klappte den Mund auf und wieder zu. „Äh, muss es denn ausgerechnet ein Krieger sein?“
„Ich weiß nicht, hab ja nur gedacht …“
„Hör mal kleiner Bruder, du bist verletzt worden und ich verstehe ja, dass du gerne mal zurückhauen würdest. Wirklich, aber zum Zurückhauen eignet sich nicht jeder. Glaubst du, du könntest jemanden schlagen?“
Benjamin ließ den Kopf sinken. Nein, das könnte er nicht. Jakob hatte schon Recht.
„Stell dir einen Krieger vor, der seinem Feind nicht wehtun will. Den lachen doch alle aus. Nein, du bist kein Krieger.“
Jakob grinste schief. „Ehrlich Benny. Du wirst bestimmt mal ein großer Naturforscher, der sich für den Schutz bedrohter Arten einsetzt oder so.
Wenn in unserer Familie jemand ein Krieger ist, dann bin ich das, oder? Wenn es sein muss, schlage ich deine Feinde in die Flucht. Und eins schwör ich dir, ab sofort lernt jeder meine Fäuste kennen, der dir weh tut. Du musst selbst nicht Krieger werden. Dafür hast du mich.“
Benjamin nickte erleichtert. Er sah das ganz genauso. Vielleicht konnte er noch mal mit Tilla sprechen und ihr diese Idee mit dem Krieger ausreden.